2. Zur Entstehung der Dokumentation

Nach Niederlage und Zusammenbruch des Dritten Reiches waren auch im kriegszerstörten Worms nicht nur schwere materielle, sondern auch tiefe geistige und moralische Schäden aus der Hitlerzeit zu beheben. Hier eine Neuorientierung einzuleiten und zu bewirken, war eine ebenso dringliche, wie schwierige Aufgabe, auch für die kulturellen Einrichtungen der Stadt, nicht zuletzt für die erst 1947 gegründete Volkshochschule, war ihr doch aufgegeben, Kenntnisse zu vermitteln, um Erkenntnisse zu gewinnen. Das war damals besonders im Bereich der politischen Bildung Erwachsener zu erbringen und führte zwangsläufig auch zur Auseinandersetzung mit dem, was während der Hitlerzeit in Deutschland und in Worms geschehen war. Und da war um die nationalsozialistische Judenverfolgung nicht herumzukommen.

Vielen Wormsern war bekannt, dass unsere Stadt vor 1933 eine bedeutende Judengemeinde gehabt hatte, aber, dass sie in den zwölf Jahren des Dritten Reiches völlig vernichtet worden war, rückte nach 1945 nur sehr langsam ins öffentliche Bewusstsein. Deutlicher wahrgenommen wurde es, als in den Jahren 1958 bis 1962 die 1938 zerstörte, 900 Jahre alte Synagoge wiederaufgebaut wurde; denn nur als Mahnmal entstand sie neu, Gläubige, die dieses Gotteshaus gebraucht hätten, gab es in Worms nicht mehr.

Dieser Wiederaufbau war auch für die VHS Anlass, sich mit der einstigen Wormser Judengemeinde zu beschäftigen. Sie bot damals eine Reihe von Veranstaltungen, in denen Prof. Dr. Dr. Otto Böcher als noch junger Wissenschaftler die Bedeutung der Juden für die Geschichte unserer Stadt und weit über sie hinaus eindrucksvoll darlegte. Die meisten Besucher hörten das nun zum ersten Mal und erkannten schmerzlich, was Worms verloren hatte. Wo aber waren die Juden, die noch zwei bis drei Jahrzehnte zuvor mit in dieser Stadt gelebt hatten? Davon war der Wormser Öffentlichkeit damals noch wenig bekannt.

1958 gab Oberbürgermeister Heinrich Völker erste öffentliche Informationen über frühere Wormser in Israel. Während einer Reise dorthin hatte er mit ihnen Kontakt aufgenommen und sprach darüber in der VHS vor einem großen Besucherkreis. Seine Ausführungen fanden auch in der "Wormser Zeitung" starke Beachtung und wirkten weiter.

Nach längerer Vorbereitung fuhr 1964 erstmals eine Reisegruppe der VHS nach Israel. Auch sie traf frühere Wormser, die sich nach ihrer Vertreibung dort eine neue Heimat geschaffen hatten. Den Besuchern aus der aIten Heimat begegneten sie nicht unfreundlich, obwohl Worms für sie mit bösen Erinnerungen belastet war. Die Gespräche mit ihnen ließen betroffen nacherleben, was Menschen hatten erleiden müssen, nur weil sie Juden waren. Hatten wir Deutsche das gewollt? Gewiss nicht alle, aber es war von Deutschen verübt worden, und das deutsche Volk, in dessen Namen sie zu handeln vorgaben, hinderte sie nicht daran. Da war über vieles nachzudenken. Von denen, die Anstöße dazu gaben, sei hier nur Hans Mannheimer genannt. Er zwang zu Klarstellungen, die auch für uns heilsam waren. So entstand ein Dialog, der zwischen ihm und mehreren Wormsern bis heute weitergeht.

Es war die Folge dieser Reise, dass die VHS im Winter 1965/66 einen Arbeitskreis durchführte mit der Fragestellung: "Was wurde aus den Wormser Juden?". Sein Ziel war, an namentlich bekannten nachprüfbaren Einzelschicksalen aus unserer Stadt aufzuzeigen, dass und wie die nationalsozialistische Judenverfolgung auch hier betrieben worden war. Es fanden sich Wormser, die sich erinnern konnten und wollten und zu dieser quälenden Auseinandersetzung mit unserer jüngeren Vergangenheit bereit waren. 15 bis 30 Personen kamen jeweils zu den monatlichen Zusammenkünften, die dann auch im Winterhalbjahr 1966/67, 1967/68 und 1968/69 weitergeführt wurden. Die gemeinsamen Bemühungen brachten manches zutage, sehr Schlimmes. Darüber wurde auch die Wormser Öffentlichkeit informiert, teils durch Veröffentlichungen in der örtlichen Presse, teils bei gegebenem Anlass wie zur "Woche der Brüderlichkeit" durch Sonderveranstaltungen der VHS, die dann auch meistens starken Zuspruch fanden. Diese Publizität bewirkte, dass die VHS auch von Wormsern, die nicht zu ihrem Arbeitskreis kamen, immer mehr Informationen erhielt.

Die Bemühungen der VHS wurden ohne ihr Zutun durch die Zeitung "Aufbau" in den USA bekannt. Daraufhin kamen von dort, aber auch von Südamerika Zuschriften früherer Wormser. Es waren anklagende und versöhnliche Mitteilungen, alle erweiterten die Kenntnis dessen, was Wormser Juden angetan worden war. Inhalt und Zahl dieser Briefe machten ihre Beantwortung nicht leicht, dankenswerterweise erhielt die VHS dabei Unterstützung durch das Stadtarchiv und seinen Leiter Archivdirektor Fritz Reuter, der auch auf andere Weise, nicht zuletzt bei den Veranstaltungen der VHS, mitwirkte.

In den Jahren 1971, 1973, 1975 und 1979 fuhren weitere Reisegruppen der VHS, darunter zwei Jugendgruppen, nach Israel. Bei den Veranstaltungen zur Vorbereitung dieser Reisen hatten sich die Teilnehmer stets auch mit der Judenverfolgung in Worms zu beschäftigen. Darüber konnten sie anhand des zusammengekommenen Materials immer eingehender unterrichtet werden. Bei Begegnungen mit früheren Wormsern in Israel hörten sie weiter davon. Und wie schon die erste Gruppe 1964 berichteten nun auch diese Reiseteilnehmer nach ihrer Rückkehr in öffentlichen Veranstaltungen der VHS, was sie erlebt hatten, meistens vor vielen Zuhörern. So wuchs das Wissen um die Schicksale der ehedem Verfolgten, und immer mehr Wormser erfuhren davon.

Von den vielen ausgetriebenen Wormser Juden waren nur einige wenige nach Worms zurückgekehrt, um hier wieder zu leben. Zu ihnen gehörten die Eheleute Erwin und Änne Mayer (s. Mayer III-3). Sie begleiteten das Tun der VHS mit großem Interesse. Als alteingesessene Wormser wussten sie über vieles Bescheid, das machte sie bald zu einer wichtigen Nachfrageinstanz, und dankend sei erwähnt, dass sie zu Auskünften jederzeit gern bereit waren. Andere frühere Wormser kamen gelegentlich besuchsweise wieder hierher, auch mit manchen von ihnen konnten Gespräche geführt und dadurch weitere Informationen gewonnen werden.

Die VHS sammelte, was ihr bei alledem in etwa 15 Jahren an Informationen zuging, Briefe, andere schriftliche Mitteilungen, aber auch wichtige Angaben aus den vielen Gesprächen in Gruppen und mit einzelnen, die auf eigens dazu angelegten Bogen festgehalten wurden. Daraus ergab sich eine umfangreiche Materialsammlung, an deren Zustandekommen Hans Markert vom Sekretariat der VHS wesentlichen Anteil hat. Er übernahm die dafür erforderliche mühevolle Kleinarbeit, trotz starker Beanspruchung durch täglich laufende Verwaltungsaufgaben.

Diese Materialsammlung enthielt zahlreiche sehr unterschiedliche Informationen über einzelne Personen und Ereignisse, reichte jedoch nicht aus, um Verlauf und Auswirkung der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Worms lückenlos zu belegen. Systematische historische Forschung hatte die VHS nicht betrieben, immer mehr stellte sich aber heraus, dass sie dazu wesentliche Voraussetzungen geschaffen hatte. So lag es nahe, die Arbeit weiterzuführen mit dem Ziel, eine Gesamtdarstellung als verlässliche Dokumentation zu erstellen. Damit wurde Anfang 1980 begonnen.

In den Tagen um den 9.11.1980 kamen auf Initiative des "Memorial Committee for Jewish Victims of Nazism from Worms", New York, ca. 50 ehemalige Wormser hierher, um in der Synagoge Gedenktafeln für ihre ermordeten Angehörigen zu enthüllen. Überlebende erinnerten sich an die entsetzlichen Folgen nationalsozialistischen Judenhasses in Worms, aber sie nahmen auch zur Kenntnis, welche Aufklärungsarbeit inzwischen hier geleistet worden war, begrüßten sie und förderten sie mit vielen weiteren Informationen.

Bis zum Frühjahr 1982 war es gelungen, eine Reihe wichtiger behördlicher Unterlagen als neue Quelle zu ermitteln und auszuwerten, damit das vorhandene Material anhand authentischer Angaben zu überprüfen und zu ergänzen und danach eine erste Zusammenfassung vorzunehmen. Nun wurden auch alle noch erreichbaren früheren Wormser Juden von dem Projekt unterrichtet. Das geschah durch Oberbürgermeister Wilhelm Neuß, der allen Adressaten auch mitteilte, was die Nachforschungen jeweils über ihre Familie ergeben hatten.

Versandt wurden insgesamt 204 Schreiben. 17 kamen als unzustellbar zurück, ohne Reaktion blieben 32, es antworteten 122 Empfänger für insgesamt 155, d.h. vielfach für mehrere Familienangehörige nur einer. Von 155 Informierten äußerten sich zum Vorhaben einer Dokumentation 149 zustimmend, 5 mit vorläufigen Vorbehalten, die mittlerweile geklärt werden konnten. Gänzlich ablehnend reagierte nur eine Person mit der Forderung, über die Familie keinerlei Mitteilung zu machen (dem wurde ursprünglich Rechnung getragen, da sich aber inzwischen eine weitere Verwandte dieser Familie ausdrücklich für die Nennung der Namen eingesetzt hat, wurden in der Bearbeitung der Dokumentation für die Aufnahme auf die dieser Webseite zugrunde liegenden CD-ROM (Oktober 2001) die Namen aufgenommen.

Viele der eingegangenen Schreiben vermittelten neue Erkenntnisse, so dass in zahlreichen Fällen berichtigte und erweiterte Neufassungen von Familienbogen nötig wurden. Hierzu kamen neue Informationen von bisher unbekannten Wormsern, die von der Briefaktion gehört hatten und von sich aus Verbindung aufnahmen. Auch ihre Angaben wurden natürlich in die Dokumentation aufgenommen.

Nach der erforderlichen Neubearbeitung ihrer ersten Fassung konnte die Dokumentation im März 1984 anlässlich des 950-jährigen Synagogenjubiläums der Wormser Öffentlichkeit vorgestellt werden. Das geschah in zwei VHS-Veranstaltungen. Wegen Überfüllung der ersten Veranstaltung war eine zweite notwendig geworden. Das starke Echo, das beide Abende fanden, hatte zur Folge, dass sich noch einmal zahlreiche Wormser meldeten, um mit Hinweisen zur weiteren Aufhellung von Schicksalen früherer Wormser Juden beizutragen.

Im Laufe 1984 kamen aus Anlass des Synagogen-Jubiläums viele ehemalige Wormser teils nach Jahrzehnten erstmals wieder hierher. Die Gespräche mit ihnen waren nicht einfach, trägt doch jeder von ihnen tiefe Wunden aus erlittener Peinigung durch Schmach, Unrecht und Verfolgung. Einmal mehr ergab sich daraus die Verpflichtung, die leidvolle Zeit der letzten Wormser Juden in unserer Stadt nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Ein bemerkenswerter Beitrag dazu kam - auch als Folge des Synagogen-Jubiläums - aus Holland. Veranlasst durch einen Bericht in der Zeitung "NIW, nieuw israelietisch weekblad" besuchte ein niederländisches Ehepaar die Wormser Gedenkstätten und berichtete hier von einer Wormser Emigrantin, die ihnen nahegestanden hatte: Hanna Kapp. Ihr Schicksal bis zu ihrem tragischen Tod hatte bis dahin im Dunkeln gelegen, selbst für nächste Angehörige. Häufige Fragen älterer Wormser nach Hanna Kapp, die einmal eine erfolgreiche und sehr bekannte Sportlerin war, können nun dank der Mithilfe ihrer niederländischen Freunde beantwortet werden.

Die Bearbeiter legen Wert auf die Feststellung, dass diese Dokumentation nur durch die Mitwirkung vieler aufgeschlossener Helfer möglich wurde. Eine besondere Ermutigung war die Bereitschaft ehemaliger Wormser Juden, diese Arbeit zu unterstützen, obwohl damit oft für sie schwere Belastungen verbunden waren. Sehr förderlich war auch die zunehmende Mithilfe einsichtiger Wormser. Während des langen Entstehungsprozesses waren es schätzungsweise 200. Ihre Beiträge waren von unterschiedlichem Gewicht, alle aber waren bestrebt, zu ihrem Teil bei der Aufarbeitung dieses traurigen Kapitels unserer Stadtgeschichte mitzuhelfen. Stellvertretend für sie alle seien hier einige um besonderer Verdienste willen namentlich genannt:

Die Damen Helene Hattemer, Martha Hochgesand, Karin Lippmann, Paule Reuter, Christa Schlösser, Susanne Schlösser, Die Eheleute Isolde Kilb-Schäfer und Heinz Schäfer, Lucie und Ludwig Kölsch, die Herren Hans Kühn, Werner Schlösser, Heinrich Weber. Besondere Erwähnung verdient Herr Paul Pfister; denn er hat die Bemühungen der VHS von Anfang an als persönliches Anliegen betrachtet und mit getragen, und später als Bürgermeister auch die stets gewährte "Amtshilfe" des Stadtvorstandes beibehalten und verstärkt weitergeführt.

Abschluß der Eintragung: 1.2.1986

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